Die Vergangenheit im Kopf, die Zukunft im Blick

Die Relevanz von der Erwerbsbiografie für die berufliche Rehabilitation

Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Jens Knispel

Dr. phil. Jens Knispel hat Psychologie (B.Sc. und M.Sc.) an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH Aachen) studiert. Er promovierte am Lehr- und Forschungsgebiet Gesundheitspsychologie (vormals: Berufliche Rehabilitation) der RWTH Aachen und veröffentlichte seine Dissertation 2019. Während und nach der Promotionszeit war und ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Projekten aus dem Sozialbereich tätig. Er beschäftigt sich in diesem Rahmen mit Fragestellungen der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation und hat in diesem Zuge eine Beratungsfirma im Gesundheits- und Rehabilitationsbereich gegründet.

Auf einen?

Expertise

  • Qualitative und quantitative psychologische Forschung
  • Berufliche Rehabilitation
  • Erwerbsbiografie

Interessant für

  • Mitarbeiter*innen der beruflichen Rehabilitation
  • Psychologen*innen
  • sich beruflich Neuausrichtende
Paul Skorupskas/Unsplash
Jens Knispel

Dr. phil. Jens Knispel hat Psychologie (B.Sc. und M.Sc.) an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH Aachen) studiert. Er promovierte am Lehr- und Forschungsgebiet Gesundheitspsychologie (vormals: Berufliche Rehabilitation) der RWTH Aachen und veröffentlichte seine Dissertation 2019. Während und nach der Promotionszeit war und ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in verschiedenen Projekten aus dem Sozialbereich tätig. Er beschäftigt sich in diesem Rahmen mit Fragestellungen der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation und hat in diesem Zuge eine Beratungsfirma im Gesundheits- und Rehabilitationsbereich gegründet.

Auf einen?

Expertise

  • Qualitative und quantitative psychologische Forschung
  • Berufliche Rehabilitation
  • Erwerbsbiografie

Interessant für

  • Mitarbeiter*innen der beruflichen Rehabilitation
  • Psychologen*innen
  • sich beruflich Neuausrichtende

Interview

Arthur Höring
Redakteur

Die berufliche Rehabilitation richtet sich an Personen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr am beruflichen Leben teilhaben können. Wie gestaltet sich diese Rehabilitation, in welchem Maße wird dabei mit der Erwerbsbiografie gearbeitet?

Jens Knispel
schreibt…
Arthur Höring
Redakteur

Die berufliche Rehabilitation richtet sich an Personen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr am beruflichen Leben teilhaben können. Wie gestaltet sich diese Rehabilitation, in welchem Maße wird dabei mit der Erwerbsbiografie gearbeitet?

Jens Knispel
Doktorand

Für Menschen, die auf Grund einer gesundheitlichen Einschränkung längerfristig nicht mehr ihrem bisherigen Beruf nachgehen können, besteht die Möglichkeit, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Anspruch zu nehmen. Vor diesem Hintergrund besteht beispielsweise die Möglichkeit, im Rahmen einer zweijährigen Umschulung einen neuen Beruf zu erlernen, der besser zu der gesundheitlichen Situation der Person passt. Das ist berufliche Rehabilitation.
Da die meisten Teilnehmer*innen dieser Maßnahme schon umfangreiche Berufserfahrung mitbringen, ist die Erwerbsbiografie, also der berufliche Werdegang, ein wichtiges Thema, das aufgegriffen werden muss. Dies wird im Kontext der Biografiearbeit in Interaktion zwischen Mitarbeiter*innen und Teilnehmer*innen der beruflichen Rehabilitation erarbeitet.
In diesem Zusammenhang gilt es beispielsweise, Bewältigungsprozesse zu unterstützen: Wer aus gesundheitlichen Gründen seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, trauert nicht selten seiner Vergangenheit nach. Das kann die Öffnung für eine neue berufliche Perspektive erschweren. Gleichzeitig gilt es aber auch, mit Teilnehmer*innen zu erörtern, welche beruflichen Stärken und Schwächen sie haben und wie diese als Ressourcen bzw. Förderbedarfe einbezogen werden können und sollten.
Die Biografiearbeit stellt aber ein komplexes, vielschichtiges Thema dar. Vor diesem Hintergrund bestand das Ziel meiner Dissertation darin, Erwerbsbiografien aus wissenschaftlicher Sicht zu systematisieren und zu strukturieren. Aufbauend darauf habe ich einen erwerbsbiografischen Interviewleitfaden speziell für die Biografiearbeit in der beruflichen Rehabilitation entwickelt.

Arthur Höring
Redakteur

Deine Arbeit umfasst insgesamt fünf aufeinander aufbauende Studien. Worin lag dabei der zentrale Erkenntnisgewinn?

Jens Knispel
Doktorand

Im Rahmen einer Vorstudie habe ich mir die Frage gestellt, ob ich aus der personalpsychologischen Fachliteratur über biografische Informationen und Personalauswahl etwas für den Kontext der beruflichen Rehabilitation lernen kann. Es wurde deutlich, dass das aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzungen beider Bereiche nicht möglich war: Während die Personalpsychologie auf eine Bestenauslese abzielt und den Menschen primär als Arbeitskraft bewertet, gilt es in der beruflichen Rehabilitation alle Menschen möglichst passgenau und individuell zu unterstützen.
Daher dienten die ersten beiden Studien einer qualitativ ausgerichteten Bestandsaufnahme. Zu diesem Zweck habe ich Interviews mit beruflichen Rehabilitanden*innen, einer soziodemografisch vergleichbaren Referenzgruppe und Expert*innen über das Thema der Erwerbsbiografie geführt.
Auf Basis dieser Ergebnisse habe ich dann einen Fragebogen entwickelt, mit dessen Hilfe ich erwerbsbiografische Verläufe beschreibbar machen konnte. So konnte ich in den drei weiteren Studien empirische Hinweise darauf finden, was die Zielgruppe beruflicher Rehabilitanden im Speziellen auszeichnet und dass subjektive Motive und Bewertungen über den Lebenslauf besprochen und reflektiert werden können. Es zeichnete sich ab, dass die subjektive Bewertung der eigenen Erwerbsbiografie, wie z. B. subjektive Einschätzung von Lücken im Lebenslauf oder die Beurteilung eigener Arbeitszeugnisse, mit Persönlichkeitsfaktoren zusammenhing. Die Haltung zur eigenen Erwerbsbiografie schlug sich auch in der aktuellen Umschulungssituation nieder und ist daher praktisch relevant. So dachten berufliche Rehabilitand*innen stärker daran, die Umschulung abzubrechen, wenn sie auch in der Umschulung noch ihrem alten Beruf nachtrauerten.

Arthur Höring
Redakteur

Du hast einen erwerbsbiografischen Interviewleitfaden angesprochen, den du entwickelt hast. Wie funktioniert dieser Leitfaden?

Jens Knispel
Doktorand

Richtig, die Erkenntnisse aus den fünf Studien habe ich in dem erwerbsbiografischen Interviewleitfaden für die berufliche Rehabilitation Reha-EBL gebündelt und für den Anwender aufbereitet. Dazu begleitend habe ich eine Anwenderinformation verfasst. Reha-EBL ermöglicht es den Anwender*innen der beruflichen Rehabilitation in Interaktion mit beruflichen Rehabilitand*innen zielgerichtete Gespräche über die individuelle Erwerbsbiografie zu führen. Dabei ist im Leitfaden vorgesehen, dass unterschiedliche thematische Schwerpunkte der Biografiearbeit besprochen werden können. Dazu gehören z. B. erwerbsbiografische Bewältigungsprozesse, Ressourcen, Förderbedarfe oder Zugang zur Selbstbewertung. Die entsprechenden Themengebiete können dann mit den Teilnehmer*innen erörtert und reflektiert werden. Reha-EBL kombiniert dafür offene Beschreibungen mit geschlossenen Einschätzungen, um die Teilnehmer*innen darin zu unterstützen, über die eigene Erwerbsbiografie nachzudenken. Mit Reha-EBL könnte die Biografiearbeit daher für die berufliche Rehabilitation standardisiert werden. Das könnte wiederum auch zur kognitiven Entlastung der Anwender*innen beitragen, da die Komplexität der Biografiearbeit mit dem Leitfaden strukturiert wird.

Arthur Höring
Redakteur

In der einen oder anderen Art spielt die eigene Erwerbsbiografie für die meisten Menschen unserer Gesellschaft eine Rolle. Gibt es persönliche Erkenntnisgewinne zu deiner eigenen Biografie, die du durch deine Auseinandersetzung mit dem Thema gewinnen konntest?

Jens Knispel
Doktorand

Die Dissertation hat mir deutlich gemacht, dass biografische Wege höchst subjektiv geprägt sind. Das heißt, dass ein gleicher Fakt im Lebenslauf von zwei Menschen unterschiedlich bewertet und gewichtet werden kann. Dies wiederum bedeutet, dass man in einem Gespräch über die eigene Biografie die wirkliche Bedeutung von Lebensabschnitten für einen selbst besonders transparent darstellen kann. Gerade wenn man nicht nur den Abschnitt an sich beschreibt, sondern verdeutlicht, welche Gefühle, Wahrnehmungen, Bewertungen und Motive dahinterstecken. Auf diese Weise stellt man sicher, dass das Gegenüber versteht, was einen biografisch gesehen zu dem Menschen gemacht hat, der man heute ist und der man zukünftig sein möchte. 

Schlagworte

Berufliche Rehabilitation, Erwerbsbiografie, Biografiearbeit, Individualisierung, Interviewleitfaden

Zusammenfassung

Die berufliche Rehabilitation bietet Menschen, die auf Grund einer gesundheitlichen Einschränkung längerfristig nicht mehr am beruflichen Leben teilhaben können, die Möglichkeit eines Wiedereinstiegs auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. In diesem Zusammenhang spielt die Berücksichtigung des Kontinuums der Arbeit eine zentrale Rolle. In dessen Rahmen muss die erwerbsbiografische Vergangenheit bei der Ausrichtung auf die berufliche Zukunft ausdrücklich in Form einer Biografiearbeit einbezogen werden. Eine besondere Herausforderung für die berufliche Rehabilitation stellt dabei die inhaltliche Komplexität der Biografiearbeit dar. Vor diesem Hintergrund bestand das übergeordnete Ziel der Dissertation darin, die Thematik der Erwerbsbiografie speziell für die berufliche Rehabilitation systematisch aufzuarbeiten. Hierfür wurde eingangs eine Bestandsaufnahme der Forschung über die Relevanz biografischer Merkmale im Personalkontext mit Hilfe eines qualitativen Literaturreviews geleistet. Darauf aufbauend wurden 30 berufliche Rehabilitanden sowie eine Gruppe von 30 vergleichbaren Arbeitnehmern ohne Reha-Bedarf (Studie A) und 19 Anwender der Rehabilitation (Studie B) zu erwerbsbiografischen Themengebieten und Verläufen interviewt. Mit Studie C wurde ein erwerbsbiografischer Fragebogen entwickelt und an 43 beruflichen Rehabilitanden erprobt. Eine verbesserte Version des Fragebogens kam in Studie D zum Einsatz, um die erwerbsbiografischen Verläufe von 88 Teilnehmern der beruflichen Rehabilitation einer Vergleichsgruppe von 206 Arbeitnehmern ohne Reha-Bedarf gegenüber zu stellen. In Studie E wurde die Relevanz der Erwerbsbiografie im Umschulungskontext auf Basis von 107 Teilnehmern überprüft. Die Ergebnisse der Studien bestätigten, dass erwerbsbiografische Verläufe äußerst individuell ausfallen. Darüber hinaus sind für die Biografiearbeit nicht nur die reinen Fakten aus dem Lebenslauf von Relevanz. Vielmehr müssen auch dahinterliegende Begründungen, Motive und subjektive Bewertungen explizit aufgegriffen werden. Die ausdrückliche Bedeutung der bisherigen Erwerbsbiografie für die berufliche Rehabilitation spiegelt sich sowohl in qualitativen Maßen (Interviews) als auch in quantitativen Maßen (Fragebogenerhebung) wider. Um die Informationen für die Praxis nutzbar zu machen, wurden die gewonnenen Erkenntnisse aus den Studien A-E in Form eines erwerbsbiografischen (Interview-)Leitfadens speziell für die berufliche Rehabilitation (Reha-EBL) verdichtet. Mit diesem Instrument kann die Interaktion zwischen Mitarbeiter und Teilnehmer zugunsten einer systematischen Biografiearbeit strukturiert werden. Thematisch kann beispielsweise ein gegebenenfalls notwendiger Bewältigungs- bzw. Verarbeitungsprozess der beruflichen Vergangenheit im Fokus stehen. Mit Hilfe des Interviewleitfadens können im Zuge der Biografiearbeit individuelle Ressourcen bzw. Potenziale identifiziert werden, die den Teilnehmer beim Rehabilitations- und Reintegrationsprozess unterstützen können.

Zitiervorschlag

Knispel, Jens. Die Vergangenheit im Kopf, die Zukunft im Blick - die Relevanz von der Erwerbsbiografie für die berufliche Rehabilitation. RWTH Aachen University, 2019, doi:10.18154/RWTH-2019-10080.

Repository

http://publications.rwth-aachen.de

Identifikatoren

10.18154/RWTH-2019-10080

doi: 10.18154/RWTH-2019-10080