Wer sind wir und wenn ja, wie viele?

Promovierende gelten in weiten Teilen als unerforschte Spezies. Eine Statistik liefert nun erste Ergebnisse zu ihrer Zahl.
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Promovierende gelten als eine besondere und in weiten Teilen unbekannte Spezies. Sie verrichten häufig unbemerkt und in der Stille ihr Tagwerk, forschen im einsamen Kämmerchen vor sich hin, gehen Tag für Tag in die Bibliothek oder brüten über dem Computer im Café am nächsten klugen Satz. Niemand kann wirklich sagen, wie viele Exemplare dieser Spezies es in Deutschland überhaupt gibt, woran sie genau forschen oder wie lange sie das schon tun. Ebensowenig weiß man, wie viele von ihnen frustriert das Handtuch werfen, weil sie kaum oder gar nicht betreut werden, weil sie in der Einsamkeit der Dissertation die Liebe zu ihrem Thema oder schlicht die Energie zur ständigen Selbstmotivation verloren haben. Wie viele von ihnen forschen und arbeiten parallel? Wer hat ein Stipendium oder eine Stelle am Institut? In welchen Fächern wird besonders viel oder besonders schnell promoviert? Alles Fragen, auf die man keine präzisen Antworten geben kann.

Eine Gesetzesnovelle bringt Licht ins Dunkel

Das darf nicht so bleiben, findet Prof. Dr. Stefan Hornbostel und begrüßt, dass mit der Novelle des Hochschulstatistikgesetzes von 2016 angeordnet wurde, zu erfassen, wie viele Doktoranden es im Land überhaupt gibt. Das ist ein Anfang, denn die offenen Fragen sind nicht einfach nur Fragen, die für neugierige Datensammler von Bedeutung sind, findet er. Für den Wissenschaftsforscher vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung liefern valide Daten zur Spezies der Promovierenden einen wichtigen Maßstab, um die Qualität des Promotionswesens in Deutschland zu beurteilen. Und da ist in den letzten Jahrzehnten einiges schief gelaufen, glaubt er: „Es hatte sich eine Kultur herausgebildet, in der die Promotion fast zu einer Privatsache zwischen Betreuer und Doktorand geworden war. Eine systematische Qualitätskontrolle hat nicht stattgefunden und wäre auch lange Zeit als lästiger und unzulässiger Eingriff in die Betreuungskompetenz des Doktorvaters verstanden worden.“ Dass nun Bewegung in die Sache gekommen ist und ein Umdenken stattfindet, haben wir seiner Ansicht nach vor allem dem „Erschrecken über die Plagiatsfälle“ der vergangenen Jahre und der damit einhergehende öffentliche Debatte zu verdanken: „Sie brachte die Frage auf den Tisch, welche Bedeutung und welchen Wert eine Promotion überhaupt noch hat. Da wurde relativ schnell klar, dass es so nicht weitergehen kann.“

Der Wissenschaftsrat forderte deshalb schon im Jahr 2011 im Positionspapier „Anforderungen zur Qualitätssicherung der Promotion“ die Zahl der Promovierenden in Deutschland nach einem einheitlichen Prinzip zu erfassen, flächendeckend Betreuungsvereinbarungen zwischen Promovierenden und Betreuern einzuführen und extern Promovierende besser einzubinden. Mit anderen Worten: einen entscheidenden Richtungswechsel in der Begleitung der jungen Wissenschaftler. „Bis dato war lediglich der Prüfungsakt geregelt, aber nicht, was von Beginn der Promotion bis zu ihrem Ende passierte“, so Hornbostel. Dabei ist es ja eigentlich die Universität, die am Ende das Zertifikat für die Promotion ausstellt und die dementsprechend Übersicht und Kontrolle über den Promotionsprozess haben sollte, glaubt er. Mit einer systematischen Erfassung der Promovierenden gewinnt die Universität nun an Kontrolle zurück. So wird unter anderem klar, wie sich die Promovierenden auf die Betreuer verteilen. „Ist es beispielsweise sinnvoll, wenn ein Professor 40 Doktoranden betreut und der andere nur einen?“, fragt Hornbostel.

Doch das sind schon Details, bedenkt man, dass allein die Beantwortung der Frage nach der Gesamtzahl der Promovierenden lange Zeit zum Scheitern verurteilt war. Stichproben und Schätzungen, die im letzten Jahrzehnt durchgeführt wurden, gingen denkbar weit auseinander: von 50.000 bis zu 350.000 Promovierenden war hier die Rede.

152.300 – eine Zahl mit Tücken

Liefert die im Dezember 2017 erstmals durchgeführte Promovierendenstatistik also endlich Klarheit? Im Februar dieses Jahres hat das Statistische Bundesamt die Ergebnisse der ersten Erhebung vorgestellt und eine Zahl verkündet: Für das Jahr 2017 wurden 152.300 Promovierende an deut­schen Hochschulen erfasst, die meisten an Hochschulen in Nordrhein­-Westfalen, gefolgt von Baden-­Württemberg und Bayern. Diese 152.300 Promovierenden besaßen am Erhebungsstichtag, dem 1. Dezember 2017, eine schriftliche Bestätigung über die Annahme zur Doktorarbeit.­

Doch die Zahl wird umgehend eingeschränkt: „Die Gesamtzahl der eingeschriebenen und nicht eingeschriebenen Promovierenden kann für Deutschland (...) derzeit nicht beziffert werden“, heißt es in dem Dokument. Die im Statistischen Bundesamt für die Promovierendenstatistik zuständige Mitarbeiterin, Dr. Meike Vollmar, geht davon aus, dass schätzungsweise „auf einen eingeschriebenen Promovierenden beziehungs­weise eine eingeschriebene Promovierende 0,4 nicht eingeschriebene Promovierende kommen“. Gewiss ist es aber nicht.

Zudem geht man von einer „offensichtlich erheblichen Untererfassung der Promovierten“ – also der erfolgreich verteidigten Doktorarbeiten – aus. Von den 155 der insgesamt 429 Hochschulen in Deutschland mit Promotionsberechtigung lieferten nicht alle vollständige Datensätze. Dies dürfte auch damit zusammenhängen, dass die Vorbereitungen an vielen Hochschulen zur ersten Meldung an die Promovierendenstatistik verspätet begonnen wurden, sodass am Erhebungsstichtag noch keine vollständigen Daten vorlagen.

Also doch wieder nur eine grobe Schätzung, die keinen Nutzen bringt? So pessimistisch sieht es das Statistische Bundesamt nicht. Laut Vollmar geht das Potenzial der neuen Promovierendenstatistik weit über das der Promovierendenerhebungen 2010/2011 und 2014/2015 hinaus. Es konnte allerdings „wegen der erwarteten und eingetretenen Anlaufschwierigkeiten für das erste Erhebungsjahr noch nicht ausgeschöpft werden“, so Vollmar.

Der Wert der Daten wird erst im Laufe der Jahre ersichtlich

Die Daten bieten also wenigstens eine erste Orientierung. Sie sind auch deshalb sinnvoll, weil im Merkmalskatalog der Promovierendenstatistik neben soziodemografischen Merkmalen der Pro­movierenden, wie Alter, Geschlecht und Staatsangehörigkeit, auch Daten zur Promotionsdauer, Merkmale wie ein Beschäftigungsverhält­nis an der Hochschule oder Art der Dissertation – ob also kumulativ oder Einzelschrift – gesammelt werden. Die Statistik erfasst zudem Unterbrechungen und den Abbruch von Promotionen und liefert damit wichtige Erkenntnisse, um Promotionsverlauf und -erfolg bemessen zu können. Ihren vollen Wert wird die Erhebung jedoch erst im Laufe der Jahre entwickeln – nämlich dann, wenn Entwicklungen beobachtbar werden.

Doch ist die Erforschung der „Spezies Doktorand“ tatsächlich wünschenswert? Die Befürchtung, dass die Erfassung nur der Auftakt zu einem stark reglementierten Promotionsverlauf ist, in dessen Konsequenz den Promovierenden ein Zeitlimit bis zur Abgabe ihrer Promotion aufgedrückt wird, steht im Raum und hält wohl auch einige Promovierende davon ab, sich offiziell zu immatrikulieren. Hornbostel würde ein Zeitlimit daher nicht empfehlen. Das sei undurchsichtig, öffne Tür und Tor für Abhängigkeiten und erschwere die Durchsetzung von Qualitätsstandards. Letztlich sei die Erfassung der Promovierenden und eine Professionalisierung des gesamten Promotionsverlaufs – einschließlich des Prüfungsverfahrens – „für eine bessere Promotionskultur in Deutschland dringend notwendig“, urteilt Hornbostel. Es ist ein wenig wie mit einer unerforschten Spezies in der Natur: Je mehr man über sie weiß, desto besser kann man sie schützen.