Scheitern

Den Vortrag versemmelt und du willst im Boden versinken? Ein Artikel übers Scheitern und wie man damit umgehen kann.
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Nachdem mein Vortrag zur Diss in tausend Stücke zerrissen worden war, habe ich auf dem Damenklo geheult. Es fühlte sich ein wenig an wie Liebeskummer, nur ein wenig alberner. Heulen? Wegen eines Vortrages? Die Welt geht davon nicht unter, es wird andere Vorträge geben und Scheitern gehört zu einer akademischen Karriere dazu. Ein versemmelter Vortrag ist ein Luxusproblem, die Engländer*innen würden sagen "a first-world problem".

Während meiner Schulzeit habe ich viele schlechte Arbeiten geschrieben, vor allem in Mathe. Das war manchmal bitter, ganz selten enttäuschend, häufig war es mir einfach egal. Wer eine Fünf in Mathe hat, ist immerhin keine Streber*in, wer es gelassen aufnimmt, genießt die Anerkennung seiner Mitschüler*innen. Schlechte Noten honorierte die sogenannte Klassengemeinschaft mit einem Sprung nach oben in ihrer erbarmungslosen Hackordnung.

Nach meinem Vortrag blieb die Anerkennung aus, es gab maximal Mitleid. Mitleid ist die kleine Schwester des Scheiterns. Unter dem Deckmantel der Empathie werden einem vergiftete Komplimente gemacht: "In Ihrem Vortrag waren ein paar gute Gedanken" oder "es ist so wichtig, dass sich auch Nachwuchswissenschaftlerinnen wie Sie mit einem Vortrag beteiligen" oder "Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen. Das sind Anfängerfehler". Die erbarmungslose Hackordnung der wissenschaftlichen Community bemisst sich an der Anzahl der vergifteten Komplimente, die man verteilt. Auch deshalb sind deutsche Tagungen häufig so anstrengend. Harte Kritik ist manchmal ein Initiationsritus, mit dem die alten die neuen begrüßen. In diesem Punkt ist die wissenschaftliche Community einer Klassengemeinschaft nicht ganz unähnlich.

Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen einer Mathearbeit und einer Diss: Eine Mathearbeit ist vor allem das Produkt der Lehrer*in. Sie gibt genaue Anweisungen, was wie zu berechnen sei. Aber die Diss ist ein Teil von mir: Die Fragen, die ich stelle, die Art und Weise, sie zu beantworten, die gewählten Wörter, die Länge der Sätze, die Literatur, die ich ausgewählt habe und besonders die, die ich ausschließe. Meine Diss ist letztendlich nichts anderes als die Summe der kleinen und großen Entscheidungen, die ich fällen muss. Deshalb ist sie mein kleines Kunstwerk.

Wenn man dieses Kunstwerk mit anderen teilt, das Exposé mit der Betreuer*in bespricht, die Freund*in bittet, ein Stück gegenzulesen oder einen Ausschnitt auf einer Tagung präsentiert - dann gibt man immer auch ein Stück von sich selbst preis. Das macht Wissenschaft ein Stück weit emotional: Rückmeldungen zur Diss erwartet man mit einer Mischung aus Spannung, Angst und Vorfreude, manchmal so gesteigert, dass man die Nacht vorher kein Auge zu bekommt. Ein gutes Feedback hebt einen auf Wolke sieben, ein schlechtes führt zu wochenlangem Trübsal. Weil sich Arbeit und Person im Falle einer Diss so schwer trennen lassen, führt umgekehrt das Scheitern vor Publikum zu Scham. Als ich meinen Vortrag versemmelte, habe ich mir gewünscht, der Boden möge sich öffnen, ich wollte hineinfallen, am anderen Ende der Erde als Surflehrerin wieder auftauchen und nie wieder zurück kehren. Das wäre aus meiner Sicht die angenehmste Variante gewesen, um mit dem Scheitern umzugehen.

Was aber tun, wenn sich keine Klappe im Boden öffnet? Man könnte einfach aufgeben, was dann auch wieder übertrieben wäre und meistens weiß man ja auch gar nicht, was man anderes machen soll. In meinem Studium habe ich gelernt, dass Menschen, die ihren Erfolg auf sich selbst beziehen und den Misserfolg auf andere schieben, letztendlich auch erfolgreicher sind als Menschen, die es genau umgekehrt tun: Denken, dass sie den Erfolg eigentlich nicht verdienen, sich aber für jeden Misserfolg geißeln. Als Wissenschaftler*in sollte man auf die Ratschläge der Kolleg*innen hören. Ich habe mich deshalb nach meinem Scheitern ausgiebig im Selbstmitleid gesudelt. Ich habe mich ordentlich echauffiert, bei Leuten, die mit der Sache nichts zu tun hatten, mit mir aber immer solidarisch sind: Partner*in, Freund*innen, liebsten Kolleg*innen - besonders aber bei meinen Eltern. Meine Eltern sind immer mit mir solidarisch und wenn ich scheitere, dann ist dies für sie ein Zeichen meiner verkannten Hochbegabung. Nachdem ich wie besoffen über die Profilneurose der Wissenschaft im Allgemeinen und über die exorbitant dämlichen Kommentare zu meinem (ansonsten brillanten) Vortrag abgeledert hatte, war ich nach etwa drei Wochen wieder nüchtern. Noch ein wenig verkatert schaute ich auf den Scherbenhaufen meines Scheiterns und fragte mich: War das alles so schlimm? Ich konnte langsam die Scherben zusammenkehren und in Augenschein nehmen. Welche Kommentare waren schmerzhaft, aber am Ende doch hilfreich? Wenn ich mich missverstanden fühlte: An welchen Stellen hatte ich mich nicht präzise genug ausgedrückt? Und welche Kritik konnte ich getrost vergessen, weil sie nicht mehr war als eine wissenschaftlich verpackte Reviermarkierung.

Das Scheitern lässt sich nicht verhindern, es schleicht sich aus der Deckung, wenn man es am wenigsten erwartet. Gegen das Scheitern kann man sich nur mit einer Rechtfertigung wehren und wer sich rechtfertigt, hat meistens schon verloren. Deswegen sollte man das würdevoll aushalten. Dies allerdings ist eine Entscheidung und damit Teil des Kunstwerkes, das sich Promotion nennt.