Mord und Plagiat verjähren nicht

Doktorarbeiten bleiben in Bibliotheken, auch wenn sie Fälschungen sind. Wie gehen die Hochschulen damit um?
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Guttenberg, Schavan, von der Leyen, neuerdings auch Giffey – prominente Politiker, deren Doktorarbeiten wegen Plagiatsvorwürfen für viel Aufregung gesorgt haben. Sie wurden bis ins kleinste Detail durchleuchtet, jeder Satz geprüft. Die damit einhergegangenen Diskussionen, ab wann denn nun der Titel entzogen gehört oder nicht, machen deutlich, dass eindeutige Antworten nicht immer auf der Hand liegen. Stattdessen gibt es viele offene Fragen: Wie viele Doktortitel werden in Deutschland jährlich aberkannt? Wie sollen Bibliotheken mit Dissertationen in ihrem Bestand umgehen, die gar keine Dissertationen mehr sind? Welche Möglichkeiten haben sie, diese Plagiate zu kommunizieren?

Die Bibliotheken müssen mit dem „Störfall“ Plagiat umgehen

Zur Aberkennung von Doktorgraden gibt es keine öffentlich zugänglichen Statistiken. „Wir wissen, von Einzelfällen abgesehen, wenig darüber, was in der Praxis geschieht. Wir bräuchten dringend verlässliches Wissen, um die Diskussion zu versachlichen“, bemängelt auch Professor Stephan Rixen. Das Thema ist komplex, erklärt der Jurist und Sprecher des Gremiums Ombudsman für die Wissenschaft: „Es ist ja nicht so, dass der Doktorgrad entzogen wird und danach alles gut ist. Die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft leidet und der wissenschaftliche Diskurs wird durch unwissenschaftliche Veröffentlichungen sehr gestört. Die Frage ist: Wie geht die Wissenschaft mit einem solchen Störfall um?“

Bisher weiß sie das noch nicht mit letzter Sicherheit. Zwar hat der Deutsche Bibliotheksverband im Jahr 2014 eine „Stellungnahme zum Umgang mit wissenschaftlichen Publikationen, die Plagiate enthalten“ veröffentlicht und darin den Eintrag eines Zusatzvermerks im Katalog empfohlen. Dieser sollte darauf hinweisen, dass „das Werk ursprünglich als Dissertation angenommen worden ist, der Doktorgrad aber mittlerweile entzogen worden ist sowie das Datum der Entscheidung und Benennung des Gremiums, das die Entscheidung getroffen hat“. Aber letztlich ist der Bibliotheksverband nur ein Dachverband und seine Empfehlung nicht bindend.

Es gibt keine allgemeine Praxis, was mit den Plagiaten geschieht

„Es gibt in den Bibliotheken bislang keine allgemein anerkannte Routine dazu, was mit den Dissertationen geschieht“, erklärt Rixen. Was aber nicht in erster Linie an den Bibliotheken liegt: Zum einen gibt es offenbar Hochschulen, die den Entzug des Doktorgrads gar nicht erst kommunizieren. Sie behalten den wissenschaftlichen „Störfall“ anscheinend lieber für sich, denn eine Mitteilungspflicht der Hochschulgremien gibt es nicht. „Man kann den Bibliotheken aber nicht zumuten, hier immer wieder Nachforschungen anzustellen“, findet Rixen. Woher sollen die Bibliotheken also wissen, dass eine Hochschulschrift keine Hochschulschrift mehr ist?

Zum anderen besteht – selbst wenn die Bibliothek über den Titelentzug informiert ist – Rechtsunsicherheit. Die Einführung der neuen Datenschutzgrundverordnung im Mai 2018 hat das noch verstärkt: Was ist überhaupt erlaubt? Darf ein Einlegezettel über den Entzug des akademischen Grades informieren? Ist ein Vermerk im Onlinekatalog gestattet? Oder ist das aus datenschutzrechtlichen Gründen gar nicht möglich? Was wiegt schwerer, die Persönlichkeitsrechte des Autors oder das Informationsrecht der Öffentlichkeit? Denn, so Rixen, „auch eine Person, die sich wissenschaftliches Fehlverhalten hat zu Schulden kommen lassen, bleibt natürlich ein Individuum mit Persönlichkeitsrechten“. Insofern sei der Eintrag in die Datenbank „zwar ein heikles Thema, aber im Interesse der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft müssen solche Vermerke möglich sein, die EU-Datenschutzgrundverordnung verbietet sie nicht“, betont Rixen.

Auch aus Sicht von Armin Talke ist der Vermerk im Sinne der guten wissenschaftlichen Praxis wünschenswert, wenn auch „durchaus brisant“. Der Referent für Rechtsfragen an der Staatsbibliothek Berlin verweist auf das grundsätzliche Problem mit einem Eintrag im Onlinekatalog: „Über Internet-Suchmaschinen kann man den Zusatzvermerk zum Titelentzug im Online-Katalog ohne Probleme finden. So wird der Titelentzug für die entsprechende Person lebenslang zur Belastung. Das wirkt insofern dann länger nach als beispielsweise die Straftat der Körperverletzung, die ja nach einer gewissen Zeit aus dem Bundeszentralregister gelöscht wird.“

Während die Straftaten eines Sexualstraftäters oder eines Diebes nach einer Tilgungsfrist aus dem Bundeszentralregister, dem Führungszeugnis und den Unterlagen der Strafverfolgungsbehörden gestrichen werden und diese Person resozialisiert werden kann, geht die Titelaberkennung also potentiell mit einer lebenslangen Ächtung einher. Zugespitzt gesagt: Totschlag verjährt nach 20 Jahren. Nur ein Mord oder eine plagiierte Doktorarbeit verjähren nicht. Ist das gerecht?

Ein weiterer wichtiger Schwachpunkt ist laut Talke, dass natürlich nicht alle wissenschaftlichen Publikationen von einer solchen Kenntlichmachung erfasst werden, sondern tatsächlich nur Dissertationen. Bei ausländischen Dissertationen kann die Bibliothek im Nachhinein festgestellte Unwissenschaftlichkeit ebenfalls nicht nachvollziehen. Für Talke ist das „eine gewisse Ungerechtigkeit, mit der man wohl leben muss“.

Denn auch eine Entfernung der entsprechenden Werke und Hinweise aus den Bibliotheken und Katalogen ist weder für Talke noch für Rixen eine diskutable Option: „Das wäre ein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit“, meint Rixen und verweist darauf, dass wissenschaftliches Fehlverhalten mittlerweile selbst zum Forschungsgegenstand geworden ist. Wie also weiter?

Eine plagiierte Dissertation darf gekennzeichnet werden

Auf der Suche nach einer Lösung haben der Ombudsman für die Wissenschaft gemeinsam mit dem Deutschen Bibliotheksverband ein Rechtsgutachten anfertigen lassen, das sich genau mit dieser Problematik beschäftigt. Beauftragt wurde Prof. Dr. Rolf Schwartmann, Leiter der Kölner Forschungsstelle für Medienrecht der Technischen Hochschule Köln. Der Vorsitzende der Gesellschaft für Datenschutz und Datensicherheit ist auch Mitglied der Datenethikkommission der Bundesregierung. In seinem Gutachten mit dem Titel „Datenschutzrechtliche Zulässigkeit der Kenntlichmachung des Entzugs eines Doktorgrades in (Online-)Bibliothekskatalogen“ kommt er zu dem Ergebnis, dass in etlichen Bundesländern schon jetzt die Voraussetzungen gegeben sind, um einen öffentlichen Hinweis auf den rechtskräftigen Entzug des Doktorgrades zu rechtfertigen. Um jeglichen Zweifel zu beseitigen, empfehle sich aber eine parlamentsgesetzliche Regelung in allen Bundesländern, die klarstellt, dass solche öffentlichen Hinweise zulässig sind.

Denn „nur durch ein klipp und klar formuliertes Gesetz können wir sicherstellen, dass solche Vermerke auch wirklich in die Bibliothekskataloge aufgenommen werden“, glaubt auch Rixen. Das Gutachten begrüßt auch Professorin Debora Weber-Wulff. „Eine öffentliche Kennzeichnung kann vielleicht wirksam davor abschrecken, plagiieren zu wollen“, hofft die Plagiatsforscherin aus Berlin. Auch den Hinweis aus dem Gutachten, dass der Grund für den Entzug des Doktorgrades genannt werden muss, hält sie für „folgerichtig“ – „damit zukünftige Leser genau wissen, woran sie sind.“

Weber-Wulff denkt, dass Universitäten langsam lernen müssten, „dass entzogene Dissertationen oder Habilitationen eben nicht ihren Ruf ramponieren. Es ist genau andersherum: Exzellente Universitäten tolerieren kein Plagiat! Sie schulen ihre Mitglieder in guter wissenschaftlichen Praxis, sie fördern eine Kultur des Zitierens, und sie sind schnell und sicher mit Sanktionen, wenn sie wissenschaftliches Fehlverhalten entdecken.“

Bis mögliche gesetzliche Änderungen durchgesetzt sind und sich gar ein Mentalitätswandel einstellt, dürfte es wohl noch ein wenig dauern. Dann werden wohl häufiger Anmerkungen wie die zu Guttenbergs Doktorarbeit den Leser warnen: „Entzug des Doktorgrades am 23. Februar 2011 durch die Promotionskommission der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth. Gilt nicht mehr als Hochschulschrift“ – vorausgesetzt, dass ein Plagiat überhaupt als solches entlarvt wurde. Aber das ist wieder ein anderes Thema.