Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen

Die meisten Fachartikel erzählen Erfolgsgeschichten. Kaum einer gibt sich die Blöße, sein Scheitern zu dokumentieren. Das muss aufhören.
Chris Barbalis/Unsplash

Stell dir ein riesiges Krankenhaus vor, in dem es keine Türschilder gibt. Irgendwo in diesem Krankenhaus liegt deine Tante, die du besuchen möchtest. Da du den Weg nicht kennst, läufst du durch die Gänge und öffnest eine Tür nach der anderen. Du verläufst dich, und so kommt es, dass du ein und denselben Gang ein zweites Mal durchsuchst. Wahrscheinlich bist du nicht der einzige Besucher im Haus, und vielleicht sind manche schon fündig geworden.

Nun wäre es ein großer Vorteil, wenn jene, die ihr Ziel bereits erreicht haben, Vermerke anbringen würden, welcher Patient sich hinter der jeweiligen Tür befindet. Das würde etwas Zeit sparen. Noch mehr Zeit würde es sparen, wenn man nicht auch noch Türen zu Toiletten, Operationssälen, Lagerräumen und Schwesternzimmern öffnen müsste – wenn also andere, die bereits erkannt haben, dass sich hier überhaupt keine Patienten aufhalten, einen Vermerk für andere hinterlassen hätten.

In der Wissenschaft sind solche Vermerke für andere rar. Die meisten publizierten Studien sind vom Typ „Hier liegt mein Patient“, beschreiben also positive Forschungsergebnisse. Dazu zählen Studien, die statistische Zusammenhänge belegen sollen, zum Beispiel „Medikament A führt im Vergleich zum Placebo zu signifikant höheren Blutdruckwerten“. Sie bestätigen damit die Hypothese, von der die Forscher ausgegangen waren. Laut der Zeitschrift Forschung & Lehre macht dieser Typ 90 Prozent aller publizierten Studien aus.

Studien vom Typ „Hier liegen keine Patienten“ sind dagegen deutlich seltener. Das wäre eine Studie vom Typ „Medikament B hat keinen Einfluss auf die Blutdruckwerte“. Dieser Umstand wird als einer der Gründe angeführt, warum so viele publizierte Effekte der Psychologie in Replikationsstudien nicht belegt werden konnten. Und es bedeutet, dass andere Forscher diese Tür immer wieder öffnen müssen, nur um festzustellen, dass dies Geld- und Zeitverschwendung war. Im schlimmsten Fall bedeutet das einen erhöhten Aufwand an Versuchstieren – oder gar Versuchspersonen.

Zudem hat es Auswirkungen auf sogenannte Meta-Studien. Das sind Studien, die verschiedene publizierte Datensätze anderer Forscher zusammentragen und gemeinsam analysieren. Wenn nur Studien, die einen angeblichen Effekt belegen sollen, publiziert werden, diejenigen, die ihn nicht zeigen können, jedoch nicht publiziert werden, dann ist die Datengrundlage der Meta-Studie von vornherein verzerrt.

Was ist der Grund für dieses Ungleichgewicht?

Sind Wissenschaftler Egoisten, die keine Lust haben, Vermerke für andere zu hinterlassen? Ist es ihnen peinlich, dass sie ahnungslos in den Operationsaal gelaufen sind? Oder sind die Zeitschriften Schuld, die negativen Ergebnissen keine Chance lassen?

Tatsächlich suchen wissenschaftliche Zeitschriften Artikel mit hohem Aufmerksamkeits- und Zitationspotential. Da das Problem aber seit Jahren hinlänglich bekannt ist, gab es immer wieder Versuche, Zeitschriften eigens für negative Ergebnisse zu etablieren, beispielsweise „New Negatives in Plant Science“, betrieben von Elsevier, die 2015 online ging, 2017 aber schon wieder eingestellt wurde, offensichtlich aus mangelndem Interesse der Forscher.

Dabei haben die wenigen Artikel aus dieser Zeit gezeigt, dass die Fachzeitschrift durchaus in der Lage wäre, dem Bedarf Rechnung zu tragen. So publizierten beispielsweise französische Forscher, wie sie trotz erheblichem experimentellem Aufwand bestimmte Moleküle in pflanzlichen Chloroplasten nicht nachweisen konnten – ein extrem wichtiger Hinweis für andere Forscher auf diesem Gebiet und trotzdem in einer klassischen Fachzeitschrift nahezu unpublizierbar. Das generell geringe Interesse der Forscher spricht allerdings dafür, dass die reine Möglichkeit zur Veröffentlichung nicht der Flaschenhals ist.

Warum und wann veröffentlichen Forscher Daten?

Die Erstellung eines wissenschaftlichen Fachartikels ist kein unerheblicher Aufwand, auch einen erfahrenen Wissenschaftler kann die vollständige Erstellung von Grafiken, Texten und Literaturlisten Wochen in Anspruch nehmen – vom langwierigen Peer-Review-Verfahren ganz zu schweigen. Im Gegenzug erhoffen sich Wissenschaftler einen prestigeträchtigen Eintrag in ihrer Publikationsliste. Da der Großteil der datenerzeugenden Wissenschaftler in Zeitverträgen beschäftigt sind und die Publikationsliste das Rückgrat der nächsten Bewerbung ist, können sich die meisten Wissenschaftler den Luxus einer altruistischen Veröffentlichung wie in „New Negatives“ einfach nicht leisten. Lieber lässt man die Daten also da liegen, wo sie sind – als unzugängliche Datei auf dem lokalen Arbeitsrechner.

Im Zeitalter der digitalen Vernetzung erscheint das wie Hohn. Es wäre schließlich ein Leichtes, die Daten anderen Forschern zugänglich zu machen. Und es gibt mittlerweile auch genügend gut ausgestattete Datenbanken, die einen solchen unkuratierten Austausch erlauben. Offene Repositorien wie FigShare, Zenodo oder GitHub ermöglichen Forschern den Austausch von Abbildungen, Rohdaten, Skripten und Metadaten.

Das ist gut und sinnvoll, doch es fehlt häufig eine wesentliche Komponente: der wissenschaftliche Zusammenhang, die Hypothese, die Einordnung, sprich, alles, was ein wissenschaftlicher Artikel leistet. Zudem sinkt mit dem Wegfallen des Peer Review-Verfahrens auch die Vertrauenswürdigkeit, und die Zitationsaussichten sind niedrig. Trotz geringerem Aufwand ist auch hier Altruismus gefordert – und zudem die Bereitschaft der wissenschaftlichen Community, diese Plattformen bei der Recherche auch zu nutzen. Nicht überraschend sind die meisten Einträge bei Zenodo Querverweise auf bereits erfolgreiche Publikationen – und keine unveröffentlichten Datensätze. Die Publikation im Peer-Review-Verfahren bleibt also der Goldstandard bei der Datenveröffentlichung – und das mit einigem Recht.

Was folgt daraus? 

Ja, Wissenschaftler sind Egoisten bei der Datenveröffentlichung, sie müssen es sein. Ja, ein Scheitern ist peinlich, es beeinflusst die Karriere negativ. Und trotzdem sind es unter anderem die Fachzeitschriften, die einen Ausweg aus dem Dilemma weisen könnten.

Wissenschaftliche Artikel sind der beste Weg zur Datenkommunikation. Sie sind die internationale Währung der wissenschaftlichen Karriere. Repositorien können wissenschaftliche Artikel sinnvoll ergänzen, aber nicht ersetzen. Gleichzeitig hat die Erfahrung gezeigt, dass der Name einer erfolgreichen Fachzeitschrift nicht mit Scheitern verknüpft sein darf. Deshalb sollten alle Fachzeitschriften die neue Artikel-Kategorie „New Negatives“ einrichten, ähnlich wie eine „Short Communication“ für interessante Zwischenergebnisse oder ein „Review“ für eine Literaturzusammenfassung.

Dabei müssten im Peer-Review-Verfahren etwas andere Standards angelegt werden, als es jetzt bei positiven Forschungsberichten der Fall ist. Die Hypothese und das Design der Studie müssen ausführlich begründet sein, und die Studie muss hinreichend plausibel belegen, dass das Scheitern nicht mit mangelndem experimentellen Geschick, falscher Handhabung oder unzureichender Statistik zustande gekommen ist. Im Gegensatz zu einem Repositorium ließe sich damit die Veröffentlichung von schlechter Forschung – im Gegensatz zu gescheiterter Forschung – effektiv verhindern.

In einem solchen Modell wird ein „großartiges Scheitern“ bei hohem zeitlichen und finanziellem Aufwand auch in einer besser zitierten Fachzeitschrift publiziert als ein „geringfügiges Scheitern“ eines weniger aufwendigen Experiments. Der Name der Fachzeitschrift in der Publikationsliste wäre dann kein Makel, der Aufwand würde sich für den Forscher also auszahlen. Zudem würde es Wissenschaftler ermutigen, von vornherein mehr Zeit und Aufwand in das Design der Studie zu investieren, um sicherzugehen, dass sie auch im Falle des Scheiterns publizierbar bleibt.

Eine Durchsetzung dieses Modells wäre ohne Zweifel gewissen Widerständen der Verlage ausgesetzt, möglicherweise ähnlich wie die Open-Access-Bewegung. Im Gegensatz dazu bedroht sie allerdings nicht das Geschäftsmodell der Verlage, sondern kann es im besten Fall ergänzen.

Dann hat der Besucher im riesigen Krankenhaus der Wissenschaft vielleicht auch eine Chance, seine Tante zu finden, bevor sie entlassen wird.