Das Einser-Dilemma

Sehr gute Noten bringen dich vorwärts. Um an der Spitze zu bleiben, musst du stetig Bestleistungen erbringen und kannst das Ergebnis nicht mehr steigern. Das ist anstrengend. Erfahre, wie du mit diesem Dilemma umgehen kannst.
Denys Nevozhai via Unsplash

Das Notensystem schafft Scheinsicherheit

Promovierende sind die crème de la crème. Weil sie in der Schule, im Bachelor- und Masterstudium hervorragende Leistungen erbracht haben, dürfen sie promovieren. Um es anders zu sagen: Promovierende sind die Gewinner*innen des Benotungssystems. Sie verstehen sich darauf, im Bildungssystem herausragende Ergebnisse zu erzielen. Und dieser Erfolg bemisst sich an Noten.
Es ist daher nur logisch, dass Promovierende oft der Meinung sind, selbst kein Problem mit Noten zu haben. Schließlich waren und sind ihre Leistungen immer spitze (von Ausnahmen sei hier abgesehen). Und wer sehr gute Zensuren bekommt, hat doch kein Problem, oder? Doch! Auch wer gute Noten hat, sollte das Notensystem hinterfragen. Expert*innen kritisieren nämlich dessen Nutzen und Aussagekraft.

Noten sollen motivieren. Bei der Benotung werden allerdings Individuen mit einer Leistungsgruppe verglichen und das hat „negative Auswirkungen auf die Lernmotivation“ und „beschädigt die Kraft intrinsischer Motivation auch bei den leistungsstärkeren“, sagt Hans Brügelmann in seiner Schrift Sind Noten nützlich – und nötig?

In Form von Ziffern entsteht zwar eine transparente und leicht verständliche Bewertung der Leistungen, sodass man die Schwächen und Stärken der Bewerber*innen mit einem Blick auf das Zeugnis erkennen und vergleichen kann. Allerdings zeigt Sabine Trapmann in ihrem Artikel über „Die Validität von Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs“, dass „die mündlichen und schriftlichen Prüfungen oft nicht hinreichend objektiv, zuverlässig und valide sind“. Zensuren sagen nicht nachhaltig und verlässlich etwas über die Qualität der Leistungen aus.

Das Notensystem schafft Scheinsicherheit und trügerisch ist das Gefühl, an der Spitze zu stehen. Es basiert schließlich auf den Einschätzungen der Lehrenden: Menschen, die nach bestem Wissen und Gewissen bewerten. Jede Benotung ist fehlbar und um sehr gute Noten zu erhalten, musst du das leisten, was die Lehrenden als Bestleistung ansehen. Es geht also darum, den Erwartungen der Bewertenden zu entsprechen. Dies ist besonders zwiespältig, da Lehrende durch das Notengeben auch Autorität und Kontrolle erlangen, sodass ein disziplinarisches Interesse mitschwingt.


Der Einser-Schnitt – ein schmaler Grat

Einser-Kandidat*innen profitieren von Benotungen, denn sehr gute Noten eröffnen Bildungs- und Karrierechancen. Dass sie aber auch unter dem Notensystem leiden, wird oft übersehen oder tabuisiert. Notenprobleme gesteht man Lernenden mit schlechten Zensuren zu. Für Einser-Kandidat*innen und deren Schwierigkeiten gibt es selten Verständnis.

Der Einser-Schnitt ist ein schmaler Grat. Je besser der Notendurchschnitt, umso schwieriger wird es, diesen zu halten. Im Mittelfeld der Notenskala kann die Kombination aus einer guten und einer ausreichenden Note zu einer zufriedenstellenden Drei führen. Für einen Einser-Schnitt hast du sehr wenig Spielraum. Ein Ausrutscher und der 1,0-Schnitt ist dahin. Rein rechnerisch ist die Wahrscheinlichkeit schlichtweg geringer, einen Schnitt mit Bestnote zu erhalten als einen Schnitt im Dreier-Bereich.

Sich an der Spitze der Notenskala halten zu wollen, kann ein Stressfaktor sein. Man muss schließlich immer exakt die Bestnote erreichen und darf nicht davon abweichen. Verstärkend wirkt das Tabu, diese Situation als problematisch zu bezeichnen. Du kannst es selten offen ansprechen und stößt damit nur bei wenigen Menschen auf ehrliches Verständnis.

Wer konstant sehr gute Leistungen erbringen will, hat ‚nach unten‘ viel Raum und kann daher tief fallen. Bei jeder einzelnen Prüfung ist theoretisch ein Absturz um mehrere Punkte möglich. Das ist beängstigend. Wer sich dagegen bereits im Mittelfeld bewegt, kann zwar in der Leistung absacken. Schlechtere Noten gehören hier aber quasi zum Repertoire.

Wer schlechte oder mittelmäßige Noten hat, kann sich theoretisch immer noch nach oben entwickeln und erlebt positive Erfahrungen, wenn die Note besser ist als man zu erwarten oder gar hoffen sich getraut hatte. Für Einser-Kandidat*innen ist das nicht möglich. Nur mit einer Bestleistung erhältst du den Status-quo. Jede Veränderung bedeutet unweigerlich eine Verschlechterung. Eine Verbesserung ist unmöglich, denn die Bestnote ist ja bereits der Standard. So entfällt das angenehme Erlebnis, eine positive Entwicklung erreicht zu haben. Zwar hat man die Bestnote, dennoch stagniert das Ergebnis aus Sicht der Benoteten – und das kann frustrieren.

Im Laufe der Schul- und Universitätszeit wird die sehr gute Note zudem immer mehr Teil der Lebensgeschichte. Die eigene Identität ist eng mit der sehr guten Zensur verwoben. Getreu dem Motto: Ich bin hier, weil ich immer Einsen hatte und nur wenn ich weiterhin Einsen produziere, bleibt mein Leben so, wie ich es plane. Die Angst, keine Eins zu erhalten, wächst stetig. Schließlich ist man so weit gekommen und will den Erfolg fortführen. Dies kann in der Promotion eine besondere emotionale Belastung sein, weil es der höchste anerkannte Abschluss des Bildungssystems ist und die berufliche Zukunft davon stark abhängt.


Mit dem Tabu brechen

Ob in der Schule oder während der Promotion – viele Einser-Kandidat*innen leiden unter Notendruck und bangen bei jeder Prüfung um das Ergebnis. Was kann man tun, um den psychischen Druck besser auszuhalten?

Die radikalste Lösung wäre die Abschaffung des Notensystems, das dich in das Dilemma bringt. Ein Dilemma ist schließlich eine Situation, die sich systembedingt nicht zum rein Positiven hin auflösen lässt. Es würde stark wirken, wenn die vermeintlichen Gewinner*innen des Systems sich gegen dieses aussprechen. Laut Expert*innen sollte das derzeitige Notensystem mit Ziffern abgeschafft und ersetzt werden: durch ein komplexeres, mehrperspektivisches Bewertungssystem.

Eine weitaus pragmatischere Herangehensweise ist der Tabubruch. Sehr gute Noten sind nicht nur etwas Positives, sondern können auch psychischen Druck auslösen. Du solltest dich fragen, ob du unter Notendruck leidest, gerade weil du an der Spitze einer Gruppe stehst. Finde Menschen, mit denen du über diese Feststellung und deine persönlichen Erfahrungen sprechen kannst.
Nicht zuletzt ist es schlichtweg falsch, dass nur ein summa cum laude für eine akademische Karriere zählt. Ganz im Gegenteil spielen mehrere Faktoren mit, wenn es um die Vergabe von Stellen geht.

Als ich kürzlich einen Professor fragte, warum die neue Professur nicht mit einer Frau, sondern einem Mann besetzt worden war, antwortete er nicht etwa: Seine Noten waren besser! Sondern: Er hat einfach mehr veröffentlicht und zwar in besseren Journals!